Auf drei Augen blind? Wie entstehen Konflikte?
Konflikte sind komplexe soziale Konstrukte und es gibt sicherlich mehr als einen Ansatz, ihre Entstehung zu beschreiben oder zu definieren. In meiner Arbeit stütze ich mich auf einen Ansatz, der meines Erachtens für die Entstehung vieler Konflikte relevant ist.
Dieser Ansatz basiert auf einem Modell von Karl Kreuser, das sich auf vier Perspektiven konzentriert, die wir auf die Handlungen anderer Menschen einnehmen.
Die erste Perspektive bezieht sich auf die Handlung selbst. Wir sehen, was unser Gegenüber tut, hören, was er sagt und beobachten, wie er sich verhält. Dies ist die einzige Perspektive, die uns direkt über unsere Sinne zugänglich ist.
Die zweite Perspektive bezieht sich auf die Person hinter der Handlung. Wir können zwar aus der Rolle, dem Alter, dem Geschlecht oder vielleicht auch der Kleidung erste Schlüsse ziehen, aber das Wesen der Person bleibt uns weitgehend verborgen. Wir wissen nicht, wer die Person wirklich ist, welche Erfahrungen sie gemacht hat, welche Ansichten sie vertritt oder welche Rollen und Positionen sie in verschiedenen Kontexten einnimmt.
Die dritte Perspektive betrifft die Werte, nach denen die Person handelt. Auch diese sind uns in der Regel unbekannt, insbesondere bei Personen, die wir nicht kennen. Selbst bei Personen, die wir kennen, kennen wir sie nicht immer vollständig.
Die vierte Perspektive bezieht sich auf die Motivation oder Absicht hinter einer Handlung. Auch diese ist uns in der Regel nicht unmittelbar zugänglich. Ohne aktiven Austausch wissen wir nicht, was unser Gegenüber mit seiner Handlung eigentlich bezweckt.
Abgesehen von der Handlung selbst bleiben uns also die Perspektiven auf die Person, ihre Werte und Motive weitgehend verborgen. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Auch unser Gegenüber erkennt nur unser Handeln.
Im Laufe unserer Evolution sind wir Meister darin geworden, Lücken in unserer Wahrnehmung mit Assoziationen und Bedeutungen zu füllen. Das funktioniert auf ganz einfache Weise, zum Beispiel mit Lückentexten, die wir mit den „richtigen“ oder zumindest plausiblen Wörtern füllen, oder mit Bildern, die aus einzelnen Strichen bestehen, die wir vor unserem geistigen Auge zu einem vollständigen Bild zusammensetzen. Unser Ziel ist es, aus etwas Unbekanntem etwas Bekanntes und Greifbares zu machen. Wir schaffen Kohärenz, Zusammenhang und Stimmigkeit und sorgen dafür, dass die Dinge für uns „Sinn machen“.
So wird aus einzelnen Strichen ein Pferd, aus einem unverständlichen Lückentext ein verständlicher Absatz. Dieses Grundprinzip der Vervollständigung und des unwillkürlichen Lückenfüllens lässt sich auf alle Lebens- und Wahrnehmungsbereiche übertragen.
Der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky hat in seinem Konzept der Salutogenese, das sich mit der Entstehung und Erhaltung von Gesundheit beschäftigt, den Begriff des Kohärenzsinns geprägt. Der Kohärenzsinn beschreibt die Fähigkeit eines Menschen, trotz belastender Situationen gesund zu bleiben, indem er die Welt als verstehbar, handhabbar und sinnvoll erlebt.
Wenn wir etwas anderes erleben als das, was wir erwarten, geraten wir in Stress. Wir beobachten die Handlung, verstehen aber nicht, warum unser Gegenüber so handelt. Wir kennen weder die Motive unseres Gegenübers noch die Person oder ihre Werte, zumindest nicht vollständig.
Um die Situation handhabbar zu machen, müssen wir der Handlung eine Bedeutung, einen Sinn geben. Also beginnen wir mit Zuschreibungen, um unsere Lücken zu füllen. Wir sind jedoch nicht immer besonders gut darin, unsere Lücken zu füllen. Gerade in sozialen Interaktionen, die sehr komplex sind, liegen wir mit unseren Zuschreibungen nicht selten daneben. Für uns erscheint zwar alles stimmig und "rund", die Realität unseres Gegenübers sieht aber nicht selten ganz anders aus. Wenn wir nun unsere Zuschreibungen auch noch als Tatsachen kommunizieren, sind wir mitten im Konflikt.
Nehmen wir als Beispiel die Situation am Arbeitsplatz zwischen zwei Kolleg*innen, Anna und Ben. Anna hat einen wichtigen Teil eines Projekts zu erledigen und Ben erwartet von ihr regelmäßige Updates. Anna ist jedoch sehr beschäftigt und hat ihr heutiges Update verpasst. Außerdem kann sie nicht sofort auf Bens Anfragen reagieren. Sie antwortet auf eine E-Mail von Ben mit einer kurzen Nachricht: „Ich arbeite daran, ich melde mich später.“ Ben sieht, Annas knappe Antwort und denkt vielleicht, dass sie sich nicht um das Projekt kümmert.
Ben beobachtet also Annas Handlung (nicht sofort und nur knapp zu antworten) und interpretiert sie als Desinteresse. Obwohl er Anna gut kennt, weiß er nicht, dass sie gerade mit persönlichen Problemen kämpft, die ihre Arbeit beeinflussen. Er hat also kein vollständiges Bild von ihrer Situation.
Außerdem hat Ben einen hohen Anspruch an Teamarbeit und glaubt, dass regelmäßige Kommunikation und Transparenz für den Erfolg des Projekts entscheidend sind. Annas Verhalten widerspricht seinen Werten, was zu einem Gefühl der Enttäuschung und möglicherweise zu der Annahme führt, dass Anna seine Werte nicht teilt. Vielleicht vermutet Ben aber auch, dass Anna absichtlich nicht auf ihn reagiert, weil sie sauer auf ihn ist, weil er ihren Geburtstag vergessen hat.
Hier beginnt der schleichende Übergang zum Konflikt. Ben fühlt sich durch Annas Verhalten verletzt und reagiert möglicherweise abwehrend oder kritisch vor den anderen Teammitgliedern. Anna wiederum kann Bens Reaktion als ungerechtfertigt und verletzend empfinden, was zu einem Teufelskreis von Missverständnissen und letztlich zum Konflikt führt.
Wie kann ich Dir helfen?
Meine Aufgabe als Mediator ist es unter anderem, die Kommunikation zwischen den Konfliktparteien so zu gestalten und zu unterstützen, dass die Konfliktparteien sich über ihre blinden Flecken, also über die Perspektiven Person, Werte und Motivation austauschen. Ziel ist es, den anderen, seine Motivation, sein Interesse hinter dem Handeln zu verstehen und nachvollziehen zu können. Erst dieses Verständnis schafft die Grundlage für eine Konfliktlösung.